Interview

Linda Unger war von November 2003 bis 2006 und ist jetzt wieder Ortsbürgermeisterin von Potzlow. Zur Zeit des Mordes an Marinus Schöberl versah ihr Kollege Johannes Weber das Amt. Im Gespräch, dass wir 2004 führten, erzählen sie, wie sie die Tat bewegte und wie sie die Aufdeckung und den Umgang mit dem Mord erlebt haben.

Johannes Weber, Sie waren 2002 Ortsbürgermeister. Erinnern Sie sich noch, wie und wo Sie von dem Mord erfahren haben?

Johannes Weber: (überlegt) So ganz genau weiß ich das nicht mehr. Es kamen immer mehr Informationsbrocken zusammen, die man sich Stück für Stück zusammengepuzzelt hat. Es gab Gerüchte: „Da soll etwas passiert sein“. Das ging mehrere Tage.

Und bei Ihnen, Frau Unger?

Linda Unger: Ich habe gehört, daß die Jugendlichen am ehemaligen Schweinestall am Dorfrand eine Leiche gefunden haben sollen. Einige Tage später wurde gesagt, das sei Marinus. Dann wurde gesagt, er sei ermordet worden. Wie Johannes schon sagte, ging das über Tage. Danach wurde bekannt, wer die Täter sind. Die beiden Schönfeld Brüder sollen daran beteiligt gewesen sein, hieß es. Mir läuft immer noch ein Schauer über den Rücken und ich kriege eine Gänsehaut, wenn ich daran denke. Ich konnte das nicht fassen.

Haben Sie von dem Mord aus der Zeitung oder von der Polizei erfahren?

Unger: Nein, über die Einwohner. Als der jüngere der Brüder nicht mehr mit seinem Wissen fertig wurde, hat er den anderen Kindern davon erzählt. Er hat gewettet, er wisse, wo Marinus sei. Und ein paar Kinder haben sich dann wirklich aufgemacht und nachgeguckt. Nachdem sie dort ein Menschen-Skelett gefunden haben sind sie losgerannt und haben noch zwei Kinder dazu geholt. Dann haben sie es sofort einem Erwachsenen erzählt und der hat die Polizei gerufen. Von der Wette bis zum Anruf war es eine Sache von ein oder zwei Stunden. Ich habe erst nach dem Eintreffen der Polizei davon erfahren.

Weber: Unter den Jugendlichen ging das natürlich herum wie ein Lauffeuer. Nachdem die Polizei da war, haben sie erzählt, was sie wussten. Die Polizei selber hat uns keine Details verraten. Und so haben sich die Einzelheiten und Vermutungen im Dorf von Einem zum Anderen verbreitet. In der Zeitung kam der Mord relativ spät.

Jemand aus dem Dorf hat die Polizei gerufen?

Unger: Ja, das ist sofort gemeldet worden. Es war nicht so, wie es später geschrieben wurde: Dass wir davon wußten und es nicht heraus kam. Ein Einwohner hat sofort die Polizei geholt.

Der Tote lag dort schon ein halbes Jahr. Haben Sie den Eindruck gehabt, dass jemand im Ort die Tat geahnt hat?

Unger: Nein!

Weber: Für mich kam das total überraschend.

Unger: Ich glaube auch nicht, daß jemand so etwas für sich behalten könnte.

Wie hab en die Leute in Potzlow reagiert?

Unger: Das war natürlich ein Schock, das war erschütternd. Und im ersten Moment haben es viele nicht fassen können, daß sowas überhaupt möglich ist. Vor allen Dingen, daß es hier passiert ist.

Weber: Es herrschte Sprachlosigkeit, die Leute haben kaum Worte dafür finden können. Zumindest mir ist es so gegangen. Auch für die, mit denen ich gesprochen habe, kam es aus heiterem Himmel. Hinterher wurde ich gefragt, ob ich wusste, dass die Polizei Marinus lange gesucht hatte. Meine Frau konnte sich erinnern, irgendwo in der Zeitung mal ein Bild von Marinus gesehen zu haben. Aber da war die Familie schon aus Potzlow weggezogen. Das einzige was wir gedacht haben, war: Guck mal, der hat doch mal hier gewohnt. Dann haben wir weitergeblättert und es irgendwann wieder vergessen. Schöberls haben ja nur einige Jahre in Potzlow gewohnt. Nachdem die Familie im Sommer 2002 weggezogen ist, war sie auch nicht mehr präsent.

Unger: Das waren recht ruhige Leute.

Weber: Frau Schöberl habe nur ich einmal kennengelernt, weil sie bei einer ABM-Maßnahme mitgemacht hat. Nur dort hatte ich mit ihr zu tun.

Wie sieht denn das dörfliche Leben in Potzlow aus?

Unger: Das beschränkt sich nicht auf die Dorffeste. Wenn der See zugefroren ist, organisieren wir für Potzlow und die Dörfer herum ein Eishockeyturnier. Dann gibt es hier viele Vereine: Die Feuerwehr, Angler, den Taubenverein, den Kinder- und Sportverein, die sich regelmäßig treffen. In der Saison ist jedes Wochenende Fußball mit vielen Zuschauern. Viele Leute engagieren sich hier.

Weber: Wir waren immer stolz auf das Dorfleben und darauf, dass wir in unserer Gemeinde eine ganze Menge für Kinder und Jugendliche angeboten haben. Der Angelverein macht Familiensonntage, zu dem sie die Großeltern und die Kinder einladen. Zum Fußball kommen die Leute sogar im Rollstuhl: Das sind die, die hier schon vor 50 Jahren Fußball gespielt haben. Wir haben in Potzlow ein reges Vereinsleben, in das viele eingebunden sind.

Kommen auch Leute aus anderen Orten?

Weber: Potzlow hat hier in der Gegend eine positive Rolle. Wir haben gleich nach der Wende, als vieles zusammengebrochen ist, Feiern gemacht und Feste organisiert. Da mussten sich ein Haufen Leute engagieren und haben Zusammenhalt darin gefunden, daß man sich trifft und gemeinsam am Freitagabend die Möbel trägt, Sonnabend aufbaut und Sonntag alles wieder abbaut. Potzlow war immer ein Punkt, zu dem die Leute aus den Nachbardörfern kamen. Weil hier was passiert ist. Weil man hier aktiv war.

Unger: In den anderen Orten haben mir die Leute gesagt, dass Potzlow immer ein Vorbild war.

Wie hat die Gemeindevertretung auf den Mord reagiert?

Weber: Wir haben das diskutiert und versucht, es zu verstehen. Wir konnten eigentlich auch nicht damit umgehen. Dann waren sofort die Schlagzeilen da: „Rechte Täterschaft, brutaler Mord!“

Ist Ihnen denn vor dem Mord Rechtsradikalismus im Dorf aufgefallen?

Weber: Es gab einzelne Jugendliche, die sich „rechts“ gekleidet haben und es gab rechte Schmierereien. In so einem Dorf glaubt man aber, man kenne seine Pappenheimer. Und hier waren es zwei Jugendliche, die sich präsentieren wollten, die auffallen wollten. So schien es uns. Mitte der 90er hatten wir Räume für einen Jugendclub zur Verfügung gestellt, aber keinen Jugendarbeiter. Da sind dann rechte Jugendliche aus den Nachbarorten gekommen und haben den Raum für sich beschlagnahmt. Wir haben das relativ schnell erkannt und den kleinen Club zugemacht.

Als Sie festgestellt haben, dass es dort Neonazis gibt, haben sie den Jugendclub zugemacht?

Weber: Ohne personelle Absicherung und Betreuung ging das nicht. Wir haben danach im Ortsteil Strehlow den Essenssaal des alten Gutshauses umgebaut und einen Jugendclub aufgemacht und eine Jugendarbeiterin eingestellt. Der Club lief gut. Darum haben wir nicht verstanden, dass man uns als rechtsradikales Dorf hingestellt hat. Wir waren der Meinung, daß wir kein Dorf sind, in dem Rechtsradikalismus verschlafen und übersehen wird.

Am Markplatz steht jetzt ein Gedenkstein, der für keinen Besucher des Dorfes zu übersehen ist und auch die Potzlower kommen immer daran vorbei. Wer hatte die Idee für diesen Stein?

Unger: Der Anstoß kam von dem ehemaligen Pfarrer, Herrn Reimer.

Weber: Johannes Reimer war viele Jahre Mitglied in der Gemeindevertretung. Wir wollten ein Zeichen setzen. Der Gedenkstein an sich war unumstritten. Die Frage war, ob wir den Stein so wie jetzt vor die Kirchmauer stellen oder mitten auf die Wiese vor der Kirche. Das wollten wir nicht, weil der Platz auch für Dorffeste genutzt wird und man um einen Gedenkstein herum keine Bierbuden aufbauen will.

Unger: Der Stein ist ein Mahnmal und steht zum Gedenken dafür, daß wir akzeptieren müssen, was bei uns passiert ist. Das soll nicht vergessen werden. Wir müssen alles dafür tun, dass so etwas nicht wiederkommen kann.

Wie erklären Sie sich, dass es zu einer solchen Gewalt kommen kann?

Unger: Das kann ich mir nicht erklären. So eine grausame Gewalt kann ich mir nicht erklären.

Weber: Es ist auch für mich nicht zu erklären. Vielleicht hat es auch damit zu tun, daß die Täter vom Intellekt her relativ weit unten angesiedelt sind. Diese Kombination: Alkohol, wenig Intelligenz und eine Gewaltbereitschaft, die es bei dem ältesten Täter schon immer gegeben hat.

Aber warum ausgerechnet Potzlow?

Weber: Die Frage wird immer gestellt. Ich glaube hundertprozentig nicht, dass es mit dem Ort zusammen hängt. Es hätte überall sein können. Denn da sind die Strukturen ähnlich. Alles, was zu unserem Nachteil aufgeführt wird, gibt es da auch: Hohe Arbeitslosigkeit, Jugendarbeitslosigkeit, kaum Lehrstellen. Gerade unter diesen schwierigen Bedingungen sind wir stolz darauf, dass wir es geschafft haben, dass die Leute sich hier wohlfühlen. Das hat mich auch als ehemaligen Bürgermeister stolz gemacht. Unsere Arbeit hat sich darin wiedergespiegelt, dass nach Potzlow Menschen zugezogen sind, während sie anderswo weggezogen sind. Hier hat sich die Zahl der Einwohner 500 auf 600 erhöht. Hier kaufen Berliner Häuser. Und andere Leute bauen ein Haus. Das tut man nicht für 10 oder 15 Jahre. Sondern mit dem Gefühl, dass auch die Kinder gut untergebracht sind in diesem Dorf. Darum sehe ich nicht, dass dieser Mord dem Dorf zuzuschreiben ist.

Haben Sie keine Fehler gemacht?

Weber: Ein Außenstehender kann sich fragen: Na, warum hat sich die Dorfgemeinschaft um die Brüder Schönfeld nicht intensiver gekümmert? Warum hat man sich nicht Gedanken gemacht, wo Marinus abgeblieben ist? Ich kann diese Frage nicht beantworten.

Warum hat man sich nicht um solche Jugendlichen gekümmert? Steht das Dorf so eng zusammen, dass es diese Familie ausschließt?

Weber: Viele Leute hier tun sich in Gruppen, Interessengemeinschaften, in Vereinen und Familiengemeinschaften zusammen. Und dann gibt es welche, die wollen das nicht. Dieses Gefühl hatte ich bei den Schönfeld-Jungs. Die anderen Jugendlichen haben gesagt, wir haben unsere Clique, wir wollen nichts mit denen zu tun haben. Und haben die laufen lassen. Gerade der ältere der Brüder kam, wenn er hier war, oft frisch aus dem Gefängnis; er hat sich mit Leuten angelegt und geprügelt. Er war wirklich nicht jedermanns Umgang und man hatte nicht das Gefühl, dass man sich um ihn kümmern sollte.

Hat die Gemeinde da etwas versäumt?

Unger: Wem wollen wir da jetzt einen Vorwurf machen?

Stellen Sie sich die Frage nicht?

Unger: Ich glaube nicht, daß da etwas verpasst wurde. Wir haben versucht, den Jugendlichen mit Clubs zu helfen. Ich bin dem älteren der Schönfeld-Brüder in den Jahren, in denen sie hier gewohnt haben, nur zwei mal begegnet.

Wieviele Jugendliche gibt es hier?

Unger: Die Jugend, die Arbeit sucht und arbeitswillig ist, die zieht weiter. Wir hoffen, daß wir etwas Zuwachs kriegen an Kindern, damit uns unsere Kindergärten und die Schule in Warnitz erhalten bleiben. Die Jugendlichen im Ort sind meist 14 oder 15 Jahre. Die Jugendlichen im Lehrlingsalter, sind ja auch die Woche über weg.

Weber: Dabei ist unsere Quote doch immer noch relativ gut ist. Hier sind Familien zugezogen und haben Kinder mitgebracht. Darum hatte unser Fußballverein teilweise drei bis vier Mannschaften. Und der Kindergarten läuft auch noch.

Wie haben Sie die Medienberichterstattung erlebt?

Weber: Als der Mord publik wurde, sind die Reporter ja hier wie die Heuschrecken eingefallen. Die meisten Leute im Dorf sind den Mikrofonen nicht mit offenen Armen entgegengelaufen um ihnen ihr Herz auszuschütten. Viele Leute hier sehen ein Kamerateam und denken: Menschenskinder, bloß weg! Das ist so eine Brandenburger Mentalität. Die Medien hatten aber das Gefühl, wir wollten etwas verschweigen. Vielleicht lag es mit daran, dass am Anfang sehr einseitig und negativ berichtet wurde.

Fühlen sie sich in Bezug auf die Rechtsradikalität ungerecht beurteilt?

Weber: Ja, das Gefühl hatten wir schon. Weil wir eigentlich der Meinung waren, dass wir an diesem Thema permanent gearbeitet haben. Wir haben über viele Jahre das Geld zusammengekratzt, um einen Jugendarbeiter zu bezahlen. Jedes Jahr liegt der Plan mit unseren Ausgaben bei uns und wir fragen uns, was wir einsparen können, damit wir diese Stelle bezahlen können. Nachdem wir den ersten Jugendclub schließen mussten, haben wir nicht resigniert, sondern gleich einen neuen eröffnet. Da war dieses Urteil der Medien ein herber Rückschlag. Wir hatten das Gefühl, jetzt schlagen alle unter dem Motto auf uns ein: Ihr verdammten Potzlower, was habt ihr euch eigentlich erlaubt.

Haben Sie das ähnlich erlebt?

Unger: Ja, in den Zeitungen stand, dass bei uns alle Alkoholiker sind und Asoziale. Und das stimmt einfach nicht.

Haben Sie Angst vor Stigmatisierung?

Unger: Sicher.

Aber den Alkoholismus gibt es im Dorf. Wie gehen sie damit um?

Unger: Mit einem unserer Alkoholiker bin ich zur Schule gegangen. Den knöpf ich mir jedesmal vor, wenn ich ihn sehe. Aber unsere Alkoholiker werden auch nicht ausgestoßen oder geschnitten. In meinen Augen sind sie auch nicht abstoßend.

Weber: Ein Teil von ihnen hat einen Lebensabschnitt erreicht, wo arbeitsmäßig sowieso nichts mehr geht und sie ihren Tagesrhythmus auf den Alkohol ausgerichtet haben. Sie treffen sich neben der Kaufhalle, treffen Leute, trinken ihren Schnaps und das Bier. Vielleicht ist deren Lebenszustand traurig. Aber trotzdem sind es hilfsbereite Leute. Einen von ihnen habe ich mal beauftragt alte Ställe abzureißen. Der hat die Ärmel hochgekrempelt und kam abends in die Sprechstunde. Da hat er stolz gesagt: Alles fertig, wo soll ich morgen ran. Ein anderer pflegt jetzt den ganzen Friedhof. Der Mann blüht förmlich auf, weil er von allen anerkannt wird und am Jahresende Präsentkörbe bekommt.

Wieviele Leute sind denn das?

Unger: Der Kreis an der Kaufhalle, das sind drei Potzlower. Sicher gibt es auch noch heimliche Trinker.

Was haben Sie nach allem aus dem Fall gelernt?

Unger: Dass wir unsere Jugendlichen mehr einbeziehen und noch besser aufklären müssen.

Weber: Dass es wichtig ist, daß man mehr miteinander redet und mehr zuhört. Im Nachhinein habe ich das Gefühl, daß vielleicht hier oder da Hinweise nicht verfolgt wurden. Wenn ein Erwachsener mit dem jüngeren der beiden Schönfeld Brüder ein gutes Gespräch geführt hätte, dann wäre er vielleicht mit der Tat herausgekommen.

Wie geht es jetzt weiter?

Unger: Wir kämpfen um die Stelle des Jugendarbeiters. Es gibt kaum noch Mittel und diese Stellen sollen weggestrichen werden. Dabei sieht man gerade hier, wie nötig sie sind.

Das Gespräch führte Marcus Franken / Textetage Berlin / 2004